Das Haus Stoffel
Rückblick auf 100 Jahre Weltoffenheit.

Von Christoph Boller

Das Hotel Stoffel beherbergt seine Gäste in einem Haus voller Geschichte. Es wurde im Jahr 1919 als Privatresidenz vom bedeutenden St. Galler Textilproduzenten Beat Stoffel (1863 - 1937) erbaut. Aus Anlass seines hundertjährigen Bestehens wurde einiges an Material zusammengetragen, um den Bauherrn und die vielen anderen zu würdigen, die zum Fortbestehen des Hauses und der Entwicklung seiner Ausstrahlung fast in die ganze Welt hinaus beigetragen haben.

Die mit der Textilindustrie verbundene Stoffel-Linie leitet sich vom Spitalmeister und Rat Franz Xaver Stoffel (1730 - 1799) ab.

Dessen 1771 geborener Sohn Franz Xaver I. richtete zu Beginn der 1820er Jahre eine Seidenbandweberei im Schloss Arbon ein, das er 1807 erworben hatte. Er führte den Betrieb zusammen mit seinen beiden Söhnen Franz Xaver II. (1794 - 1841) und Severin (1799 - 1867). Nach dem frühen Tod Franz Xavers II. im Alter von 47 Jahren legte dessen Sohn Franz Xaver III. 1860 mit der Gründung seiner eigenen Gewebeproduktion in St. Gallen den Grundstein eines Unternehmens, das über Jahrzehnte hinweg und insbesondere unter der Leitung seines Sohnes Beat zu Weltgeltung aufstieg.

Geboren wurde Beat Stoffel am 24. Januar 1863 in St. Gallen, sein Heimatort war Arbon und ab 1935 Steinach am Bodensee. Er besuchte die Kantonsschule St. Gallen, die Handelsschule in Freiburg und machte eine Lehre im väterlichen Geschäft, das den Namen ›B. Fässler Inhaber: Xaver Stoffel‹ trug. Nach seiner Ausbildung ging er für mehrere Jahre nach London. Dort beeindruckten ihn vor allem die gewaltigen fabrikatorischen Fortschritte der englischen Textilindustrie. Mit diesen Kenntnissen ausgerüstet, trat er 1888 in das väterliche Geschäft in St. Gallen ein, das in diesem Jahr in ›Stoffel & Co.‹ umbenannt wurde. Mit 32 Jahren übernahm er 1895 die Geschäftsleitung. Über die kommenden Jahre hinweg erweiterte er das Warensortiment um jeweils neu aufkommende Stoffarten. Ab 1907 baute er die Firma zunehmend in Richtung Fabrikation aus, indem er in jenem Jahr insgesamt drei Webereien in Eschenbach, Neuhaus und Schmerikon erwarb. Damit gelang ihm der entscheidende Schritt vom Handel zur Industrie. Im Jahr 1910 beteiligte sich Beat Stoffel an der Gründung der St. Galler Feinwebereien AG. Mit 100 Webstühlen stellte sie damals das grösste schweizerische Textilunternehmen dar, das die drei oben erwähnten Betriebe sowie Webereien in Lichtensteig und Schönengrund umfasste. Der Export nahm stark zu, so dass bereits 1912 eine Filiale in London und 1913 eine solche in Berlin eröffnet werden konnte. Bald wurde es in den Räumlichkeiten des Hauptsitzes an der Bahnhofstrasse 15 zu eng, so dass ein neuer Standort innerhalb von St. Gallen gefunden werden musste. Es wurden grössere Büro- und Lagerlokalitäten bezogen, zunächst an der Schützengasse 12, dann an der Schochengasse 8 und schliesslich 1923 im repräsentativen ›Haus Washington‹ an der Rosenbergstrasse 20.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs unterbrach die positive Geschäftsentwicklung jäh. Blockaden und Gegenblockaden der Kriegsparteien bedrohten die Interessen der Baumwollindustrie. Um diese zu verteidigen, wurde Beat Stoffel 1915 zum Hauptinitianten bei der Gründung des ›Vereins Schweizerischer Baumwollgarn- und Tücherhändler‹ und dessen erster Präsident.

Sofort nach Kriegsende, als Produktion und Handel am Boden lagen, begann Beat Stoffel mit der Anpassung seines Unternehmens an die neuen Verhältnisse. Den nahezu völligen Ausfall der Stickböden kompensierte er durch die Weiterveredelung von Stoffen, insbesondere von Organdy. 1920 erwarb er die bedeutende Spinnerei und Weberei Mels und unterzog diese einer gründlichen technischen Modernisierung. 1923 bis 1925 folgte die Beteiligung an der ›Ausrüstanstalt AG Textil Herisau‹. Von der Einfuhr der Rohstoffe über die Fabrikation bis zum Verkauf besass er nun die gesamte Wertschöpfungskette. Auch mit den aus Not nach dem Krieg aufkommenden künstlichen Textilfasern machte er gute Geschäfte. Als erstem Textilunternehmen in Europa gelang es der Firma Stoffel, Crêpes de Chine und Crêpes Georgette aus Kunstseide zu weben, Produkte, die sich sowohl im In- wie im Ausland hervorragend verkaufen liessen. Vom allgemeinen Wirtschaftsaufschwung in den Jahren 1925 bis 1928 profitierte auch der Stoffel-Konzern, dessen Schwergewicht in dieser Zeit auf dem Export lag. Nebst den bereits bestehenden Filialen in Berlin und London kamen neue in Paris, New York, Chicago, Los Angeles und Singapur hinzu.

1930 zog sich Beat Stoffel im Alter von 67 Jahren aus der Geschäftsleitung zurück und überliess die Führung seinem 1895 geborenen Sohn Max, der bereits 1914 als Lehrling in die Firma eingetreten und seit 1919 Mitglied der Geschäftsleitung war. Dieser Führungswechsel fiel in die schwierige Zeit der Weltwirtschaftskrise, die 1929 durch den Zusammenbruch der New Yorker Börse ausgelöst worden war. Wie sich zeigen sollte, war die Firma unter der Leitung von Max Stoffel auch dieser gewaltigen Herausforderung gewachsen, denn offensichtlich hatte der Sohn das unternehmerische Talent von seinem Vater geerbt.

Am 2. November 1937 verstarb Beat Stoffel und wurde auf dem Friedhof seiner Heimatgemeinde Steinach am Bodensee zu Grabe getragen.

Der erste Kontakt zu Arosa entstand durch Beat Stoffels Söhne Max und Charly, die den Ort im Jahr 1913 nach einer Skiwanderung von Parpan über das Urdenfürggli erstmals besuchten. Sie stiegen im Hotel Kulm ab, wo sie ihre Schwester Ella trafen, die mit der Postkutsche von Chur nach Arosa hochgefahren war. Die Stoffel-Geschwister waren von der Schönheit der Gegend hellauf begeistert. Wieder zuhause schilderten sie ihrem Vater ihre Eindrücke, worauf dieser Arosa ebenfalls kennenlernen wollte. Es dauerte allerdings noch sechs Jahre, bis dies im Jahr 1919 geschah. Mit einem Pferdegespann fuhr die Familie vom Wohnort Steinach am Bodensee das Schanfigg hinauf und stieg erneut im Hotel Kulm ab.

Dass Beat Stoffel schon ein Jahr später dessen Besitzer sein würde, konnte niemand ahnen. Wie sich nämlich herausstellte, befand sich die damalige Besitzerin, Fräulein Milli Liner, in finanziellen Schwierigkeiten. Beat Stoffel befreite sie von ihren Geldsorgen, indem er ihr das Hotel kurzerhand abkaufte. In den folgenden Jahren veranlasste er Um- und Neubauten und führte den Betrieb zu neuem Erfolg.

Ebenfalls 1919, im Jahr seines ersten Besuchs in Arosa, erwarb er ein Grundstück etwas oberhalb des Kulm Hotels gleich neben dem Heimatmuseum, das früher als Gemeindehaus gedient hatte, und liess dort ein stattliches Wohnhaus errichten, das er ›Huus Stoffel‹ nannte.

Galerie mit historischen Fotos und Zeichnungen Haus Stoffel

Als Architekten engagierte er den in Arosa ansässigen Alfons Rocco. Dieser hatte sich unter anderem durch seine fünf Bahnhofsgebäude entlang der 1914 eröffneten Bahnstrecke Chur – Arosa einen Namen gemacht. Die im Chaletstil gehaltenen Stationsgebäude in Lüen-Castiel, St. Peter-Molinis, Peist, Langwies und Litzirüti existieren bis heute. Ihre Besitzerin, die Rhätische Bahn, investierte 2013 mit Blick auf das anstehende 100-Jahre-Jubiläum der Arosabahn zwei Millionen Franken in die Auffrischung dieser Bauwerke. Der Baustil Alfons Roccos war prägend für viele Häuser, die zu jener Zeit in Arosa gebaut wurden. Zusammen mit anderen einheimischen Architekten wie den Gebrüdern Brunold, Jakob Licht, Fritz Maron und Ferdinand Zeit spielte er eine wichtige Rolle in der enormen baulichen Entwicklung Arosas während der 1920er und frühen 1930er Jahre, die den rasanten Aufstieg der Gemeinde vom stillen Kurort zur bedeutenden Sommer- und Wintersportdestination widerspiegelt.

Im ›Huus Stoffel‹ verbrachte Beat Stoffel zusammen mit seiner Frau Annie sowie seinen fünf Kindern Beatrix, Ella, Charly, Max und Anemarie die Wintermonate. Von hier aus führte er während der kalten Jahreszeit sein Unternehmen, im Frühling ging es dann wieder zurück auf seinen Hauptwohnsitz, den Weidenhof in Steinach. Doch nicht nur seine Firma beschäftigte ihn, er nahm auch regen Anteil am Dorfleben Arosas, war gern gesehener Gast am Stammtisch des ›Poststübli‹ und wurde rasch zu einem bedeutenden Förderer der Gemeinde. Um Landspekulationen vorzugreifen, kaufte er grosse Alpwiesen in Innerarosa ober- und unterhalb der Bergkirche, Teile der Kulmwiese und Land vom Gspan bis zum Ifängi. Weite Teile davon wurden später zu Skischutzzonen, mehrere Grundstücke sind bis heute aufgrund eines Servituts unüberbaubar. Er setzte sich zudem für Waldaufforstungen, die Sportförderung, das Vorankommen der Tourismusdestination Arosa und die Besserstellung der Bauern ein. 1925 schenkte er der Gemeinde den Bauplatz zur Errichtung der katholischen Kirche.

Eine seiner letzten Taten war die Übernahme der Hütte auf dem Weisshorn, die der Spengler und Skilehrer Hans Höpflinger nach Überwindung unzähliger Hindernisse, die ihm von den Behörden, den umliegenden Gemeinden und dem Skiclub in den Weg gelegt worden waren, gegen Ende 1933 fertig gestellt hatte. Doch aufgrund andauernder Sticheleien und Unannehmlichkeiten sah sich Hans Höpflinger nach nur zweieinhalb Jahren entnervt und finanziell in Schwierigkeiten geraten zum Verkauf genötigt.

Am 5. April 1936 ging die Hütte an Beat Stoffel über, der sie im Laufe jenes Jahres in seinem Stil weiter ausbaute. Wieder war Alfons Rocco sein Architekt, der erneut eine wunderschöne Arvenstube realisierte, die an jene im Haus Stoffel erinnerte.

Ende 1936 war die neue Kulm-Hütte, wie Beat Stoffel sie nannte, bezugsbereit. Im August 1937, knapp drei Monate vor seinem Tod und bereits schwer von Krankheit gezeichnet, liess er sich von einem Maultier bis auf den Sattel tragen, um von dort zu Fuss zu seiner geliebten Hütte auf 2657 Meter hinaufzusteigen. Nach seinem Tod wurde die Hütte in Beat-Stoffel-Hütte umbenannt. 1955 wurde sie von den Stoffel-Erben an die Bergbahnen verkauft. Im Sommer 2007 wurde sie abgerissen.

Nach dem Tod von Beat Stoffel im November 1937 verwaiste sein Aroser Haus vorerst. Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurde es sowohl für die Stoffels wie für andere Familien, die in Arosa Häuser besassen, schwierig, sich um ihre Anwesen zu kümmern. Dennoch bewohnte Sohn Max mit seiner Familie das Haus Stoffel auch in den Kriegsjahren periodisch, um es ein wenig mit Leben zu erfüllen und es einigermassen instand zu halten. Sein Sohn Patrick, der 1935 zur Welt kam, erinnert sich an diese Zeit. Beispielsweise an das Jahr 1942, in dem sich im Zuge der Erbteilung sein Onkel Charly mit einigen schönen Gegenständen aus dem Haus bediente, was kurz zu einer Missstimmung zwischen ihm und Patricks Vater führte. Der kleine Patrick zog wenig später mit seiner Familie in ein eigenes Haus in Innerarosa, worauf das Stoffel wiederum für mehrere Jahre leer stand. Verwaltet wurde es vom Kulm Hotel, das Teil der ›Kollektivgesellschaft Arosa Kulm Hotel und Erben Beat Stoffel› war.

Als sich nach dem Krieg zeigte, dass niemand von den Stoffel-Erben das Haus übernehmen und bewohnen wollte, einigte man sich darauf, einen Käufer oder Mieter zu suchen. Es meldeten sich die Schweizerin Lydia Leonhard und die Schottin Lavinia Hunter, die sich Jahre vorher bei einem Sportanlass in Frankreich kennengelernt hatten und seither eng befreundet waren.


Sie planten, gemeinsam eine sogenannte Finishing School zu eröffnen. So hiessen private Schulen für junge, aus gutem Hause stammende Frauen, die auf das Leben in der gehobenen Gesellschaft vorbereitet werden sollten. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden in der Schweiz zahlreiche solcher Schulen, die meisten davon in der Westschweiz. Die Damen Leonhard und Hunter folgten diesem Trend und sahen im Haus Stoffel das richtige Objekt zur Umsetzung ihres Vorhabens.

Den Namen für ihre Schule kreierten sie aus den Anfangsbuchstaben der fünf Kinder des Bruders von Lavinia Hunter: BELRI. Die Eröffnung fand im Dezember 1948 statt. Rasch stellte sich Erfolg ein. 1956 konnten sie das Haus käuflich erwerben, 1961 erweiterten sie es um einen grösseren Anbau, der ausreichend Platz für den Unterricht und die Unterbringung der Schülerinnen bot. Das BELRI wurde von jungen Frauen aus der Schweiz, aus Deutschland, Holland, Dänemark, Finnland, England, Israel, den USA, Thailand, dem Iran, Südafrika sowie aus lateinamerikanischen Ländern besucht. In der Blütezeit waren es an die 40 Schülerinnen und bis zu 6 Lehrerinnen und Lehrer, die das Haus bevölkerten.

BELRI-Broschüre 50er Jahre | BELRI-Broschüre 60er Jahre

Miss Hunter und Fräulein Leonhard, wie sie sich ansprechen liessen, die von den Mädchen unter sich aber Lili und Ly genannt wurden, führten ihr Pensionat mit strenger Hand. Tonangebend war Lavinia Hunter. Sie machte die Hausregeln und setzte diese konsequent durch. Auf Diskussionen liess sie sich kaum ein. Eine dieser Regeln betraf die Sprache, in der sich die Mädchen untereinander zu verständigen hatten. Es musste immer in einer Sprache gesprochen werden, die nicht die Muttersprache der betreffenden Schülerinnen war. Eine Deutsche und eine Engländerin mussten sich beispielsweise des Französischen bedienen. Jeden Abend wurden die Schülerinnen von Miss Hunter befragt, ob sie «gesündigt» haben, indem sie gegen diese Sprachregelung verstossen haben. Geantwortet wurde entweder mit «zéro» oder «beaucoup». Zwischenstufen gab es nicht. Missachtung der Regel, die mit einem «beaucoup» zugegeben wurde, führte zu einer Busse von 50 Rappen. Wohin die eingenommenen Strafgelder flossen, ist nicht bekannt. Die Muttersprache durfte nur an Samstagen ab der Mittagszeit gesprochen werden. In dieser Zeit gab es aber Einschränkungen, da am Abend jeweils Schallplatten mit klassischer Musik gespielt wurden. Während dieses «Konzerts» durfte überhaupt nicht gesprochen werden und um 22.15 Uhr war ohnehin Lichterlöschen.

Des Weiteren wurden die Schülerinnen dazu angehalten, leise zu sein und keinen Lärm zu machen. Auch die Freizeit unterlag strikten Vorschriften. Es durfte beispielsweise nur zu dritt ins Dorf gegangen werden und es waren nur Besuche in festgelegten Cafés erlaubt, wo es keinen Alkohol gab. Es kam vor, dass schlechtes Benehmen von den Wirten ins BELRI gemeldet wurde, was zu unangenehmen Gesprächen mit Miss Hunter führte. Rauchen war ebenfalls untersagt.

Zu den Unterrichtsfächern im BELRI gehörten in den ersten Jahren seines Bestehens all jene, die auch im Lehrplan von Gymnasien stehen, also etwa Mathematik, Physik oder Geographie. In den späteren Jahren fielen diese Fächer weg und es wurde zunehmend Wert auf Benehmen und Etikette sowie Kochen, Nähen, Musik, Theater, Kunst und Tanz gelegt. Miss Hunter persönlich brachte den Schülerinnen das in ihrer Heimat Schottland weit verbreitete Highland Dancing bei. Hinzu kamen diverse sportliche Aktivitäten wie Tennisspielen sowie ausgedehnte Wanderungen. Im Winter wurden diese teilweise auf den Skiern und mit Fellen bis auf die Maienfelder Furka unternommen. Im Zentrum standen allerdings die Sprachen. Jedes Mädchen musste mindesten zwei Fremdsprachen beherrschen. Auch die beiden Vorsteherinnen des BELRI betätigten sich als Lehrerinnen. Miss Hunter unterrichtete Englisch mit lupenreinem Oxford English und Fräulein Leonhard Deutsch.

Über die Biographien der Frauen ist wenig überliefert. Die 1917 in Edinburgh geborene Lavinia Hunter hatte Medizin studiert, ihre Ausbildung wohl aufgrund des Krieges aber nicht abgeschlossen. Lydia Leonhard kam 1918 als Einzelkind in Zürich zur Welt. In ihrer Jugend verbrachte sie einige Zeit in Deutschland, wo sie zur Sportlehrerin ausgebildet wurde. Sport war ihr stets ein wichtiger Ausgleich zur Arbeit. Bis ins hohe Alter fuhr sie Ski, spielte Tennis und Golf und ging regelmässig Schwimmen, Bergsteigen und Klettern. Sie war Mitglied des Schweizer Frauen-Alpenclubs, in dem sie Ruth Licht, die Aroser Fotografin und Chronistin, kennenlernte. Mit ihr blieb sie bis zu ihrem Lebensende befreundet und Ruth Licht war es auch, die die Grabrede verfasste.

Nach dem Herbst- und dem Wintersemester begaben sich die BELRI-Schülerinnen auf eine von Fräulein Leonhard minuziös organisierte Italienreise. Die in Kunstgeschichte bewanderte Lavinia Hunter bereitete die Schülerinnen auf die Museumsbesuche in Florenz, Rom und Venedig vor. Es wurden auch Konzerte und Opernaufführungen besucht. Das Frühlingssemester fand schliesslich in Roquebrune-Cap-Martin statt, einem wunderschön gelegenen Ort an der Côte d’Azur zwischen Menton und Monte-Carlo.

Während der etwas mehr als 20 Jahre, in denen das Pensionat BELRI existierte, kam es zu markanten gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, die sich auch auf das Verhalten und die Befindlichkeit der Schülerinnen auswirkte. Die 50er Jahre verliefen relativ ruhig und die jungen Frauen waren in der Regel ziemlich folgsam. Im nachfolgenden Jahrzehnt formierten sich verschiedene soziale Bewegungen, die im Rückblick zusammenfassend als die 68er-Bewegung bezeichnet wurden. Es kam zu Protesten, Demonstrationen, Unruhen und teilweise auch gewaltsamen Auseinandersetzungen in den USA, in verschiedenen Ländern West- und Osteuropas, in Japan und in Mexiko. Eine der vielen, teilweise tiefgreifenden Folgen dieser Entwicklung war, dass Institute wie das BELRI als nicht mehr zeitgemäss empfunden wurden und an Bedeutung verloren. Entsprechend sank die Zahl der Schülerinnen gegen 1960 hin immer weiter.

Interessanterweise erhielt das Stoffel im Abstand von zwei Jahren Besuch von Repräsentantinnen jener beiden Epochen:

Im Herbst 2018 fand eine Klassenzusammenkunft des Jahrgangs 1967/1968 statt. 13 ehemalige Schülerinnen, die mittlerweile um die 70 sind und von denen sich die meisten seit jener Zeit vor 50 Jahren nicht mehr gesehen hatten, kamen zusammen und tauschten über 4 Tage hinweg ihre Erinnerungen an die BELRI-Zeit und die Geschichten ihrer Leben intensiv und ausführlich aus. Barbara Lienhard hat die Damen getroffen. Von ihr stammt der Text ›Die BELRI Girls‹, der auf dieser Website zu finden ist.

Im Herbst 2020 war die damals 82jährige Doris Cordero aus Zürich zu Gast. Sie hat die Schule von Fräulein Leonhard und Miss Hunter in den Jahren 1952 bis 1954 besucht und beschreibt diese Zeit als eine sehr glückliche und äusserst bereichernde. 1964 kehrte sie zurück, diesmal als Englisch- und Spanischlehrerin, und spürte rasch, dass sich die Stimmung im Haus stark verändert hatte. Es gab jetzt wesentlich mehr Mädchen, die unglücklich waren und unter dem strengen Regime litten. Von Frau Cordero stammen viele der weiter oben geschilderten Eigenheiten des Lebens im BELRI. Sie hat im Laufe der Zeit zwei Klassenzusammenkünfte organisiert und pflegt noch heute Kontakte zu einigen ihrer damaligen Mitschülerinnen.


Im Frühling 1971 hoben Lydia Leonhard und Lavinia Hunter den Schulbetrieb auf. Nach kleineren Umbauten begannen sie mit der Lancierung des Hauses als Hotel, das sie noch im selben Jahr zur Wintersaison hin ebenfalls unter dem Namen BELRI eröffneten. Während man als Leitungsteam der Finishing School ganz gut miteinander zurechtgekommen war, klappte die Zusammenarbeit im Rahmen des Hotelbetriebs nicht mehr. Oft gab es Streit zwischen den Frauen. Der Wechsel vom Umgang mit den Schülerinnen zu jenem mit Hotelgästen fiel Lavinia Hunter nicht leicht. Oft wählte sie den falschen Ton. Es kam zur privaten und geschäftlichen Trennung. Ab 1975 war Lydia Leonhard alleinige Besitzerin des BELRI.

Noch einmal gelang es ihr, ein Unternehmen aufzubauen und zum Erfolg zu führen. Nach insgesamt 40 weitgehend glücklichen Jahren in Arosa verkaufte sie das Hotel im Jahr 1988. Nach einer misslungenen Augenoperation und gesundheitlich angeschlagen verliess die mittlerweile 70jährige Graubünden und zog in eine Altersresidenz in Zürich, wo sie im Jahr 2001 verstarb. Ihre Asche wurde auf dem Friedhof der Bergkirche in Arosa beigesetzt. Eine kluge, tatkräftige und innovative Frau hat hier, inmitten der von ihr geliebten Berge, die letzte Ruhe gefunden.

Grabrede für Ly Leonhard von Ruth Licht: Text Teil 1 von 2 | Text Teil 2 von 2

Käufer des Hauses war Peter Kunz, der es von Grund auf sanierte. Er selber trat aber nicht als Hotelier in Erscheinung, sondern verpachtete den Betrieb ab 1989 an Claudia und Willi Beerli. Das Ehepaar war schon vor Jahren aus dem Unterland nach Arosa gezogen und erfüllte sich mit der Übernahme des Hauses einen Traum. 1999 wurden sie Eigentümer des BELRI und führten es während insgesamt 25 Jahren mit grossem Erfolg. Auch ihnen gebührt Respekt und Anerkennung für ihre Leistung, das traditionsreiche Haus über so lange Zeit hinweg auf hohem Niveau gehalten zu haben. Im Jahr 2014 entschieden sie sich zum Verkauf an Matthias Eisenmann-Schubert.


Zusammen mit zwei langjährigen Freunden, Markus Giger und Christoph Boller, dem Verfasser dieser Zeilen, zog dieser im Herbst 2014 nach Arosa, um fortan die Geschicke des Hauses zu leiten.

Das Triumvirat kam durch mehrere Zufälle zustande, hat sich aber mit der Zeit als ideale Kombination erwiesen. Die drei Männer sind:

Matthias Eisenmann-Schubert aus Süddeutschland. Siedelte schon Jahre vor Beginn des Aroser Projekts nach Zürich über. Lehre als Koch, Hotelfachschule in der Schweiz. Langjährige Erfahrung in der Gastronomie in verschiedenen Ländern und Kontinenten.


Markus Giger aus Chur. Schon als Jugendlicher Mithilfe im elterlichen Restaurant und Hotel im St. Galler Rheintal. Absolvent der Hotelfachschule Belvoirpark. Leitende Positionen in grösseren Gastronomieunternehmen in Zürich und Zug.

Christoph Boller aus dem Zürcher Oberland. Germanistikstudium in Zürich und Berlin. Marketing und PR bei Schallplattenfirmen. Manager eines international tätigen Opern- und Konzertdirigenten. Dann Quereinstieg in die Gastronomie.

Die gemeinsame Aroser-Geschichte begann am 1. Januar 2008. Christoph Boller und Markus Giger, die sich seit Beginn der 90er Jahre kennen, trafen sich in einer Zürcher Beiz auf ein Bier. Christoph erwähnte eine kurze Begegnung mit einem Bekannten und dessen Begleitung am Bellevue. Die Begleitung stellte sich als Matthias vor und erzählte, dass er Gastronom sei, gerne ein eigenes Hotel führen würde und sich nach einem geeigneten Geschäftspartner umsehe. Markus, der ebenfalls schon seit langem solche Pläne hatte, wurde hellhörig und bat Christoph, ein Treffen zwischen ihm und diesem Matthias zu arrangieren. Das fand eine Woche später statt. Die beiden verstanden sich zwar auf Anhieb gut, doch erst sechs Jahre später und nach unzähligen Besichtigungen hatten sie das richtige Objekt gefunden.

Am 5. Dezember 2014 starteten die drei die erste Wintersaison. Zusammenfassend können die ersten Jahre als eine Zeit der Renovation und Innovation beschrieben werden. Das Haus war bei der Übernahme zwar funktionstüchtig, entsprach aber in einigen Bereichen nicht mehr den heutigen Anforderungen. Auch Punkto Ästhetik bestand Nachholbedarf, vor allem das Restaurant war nicht mehr zeitgemäss.

Unter Federführung der renommierten Churer Architektin Tilla Theus und ihrem hervorragenden Mitarbeiter Holger Widmann wurde es von Grund auf erneuert. Das für das Haus prägende, von Beat Stoffel geliebte Arvenholz wurde auch für den Neubau des Restaurants verwendet. Der Raum stellt eine Neuinterpretation der direkt an das Restaurant angrenzenden Arvenstube von Beat Stoffel dar.

Doch nicht nur für das Restaurant fand das Büro von Tilla Theus eine Lösung. Für das gesamte Haus und seine Umgebung wurde ein umfassendes Konzept erarbeitet. Schritt für Schritt wurde der Garten erweitert, die Gästezimmer aufgefrischt, zum Teil umgebaut und mit einer neuen Beleuchtung ausgestattet. Die Rezeption wurde umgestaltet, die Stoffel-Stube neu möbliert, der Platz vor dem Haus mit Kopfsteinpflaster veredelt und mit Bäumen bepflanzt. Den Abschluss bildete die Errichtung eines Fassbrunnens direkt vor dem Haus. Andere, für die Besucher nicht sichtbare Massnahmen betrafen den Einbau einer neuen Heizung sowie einer neuen Küche.

Parallel zu den notwendig gewordenen Renovationen gab es Innovationen. Marketingmassnahmen beispielsweise, die helfen, neues und oft auch jüngeres Publikum anzusprechen. Das Hotel erfreut sich einer urbanen Internationalität, die das Haus jung hält und sich gut verträgt mit eher traditionell ausgerichteten Besucherinnen und Besuchern. Oder die Öffnung des Restaurants für externe Gäste verbunden mit einer Neuausrichtung des kulinarischen Angebots. Und die Rückbesinnung auf den ursprünglichen Namens des Hauses. Aus dem BELRI wurde im Dezember 2015 wieder das Stoffel – im Gedenken an seinen Erbauer Beat Stoffel.

Seit mehr als 100 Jahren steht es in Innerarosa, das Haus Stoffel. Von der privaten Residenz hat es sich zum Mädchenpensionat und dann zum Hotel gewandelt. Ein offenes Haus war es während all der Jahrzehnte. Beat Stoffel, der international tätige Unternehmer, empfing oft und gerne Gäste. Während der Zeit als Mädchenpensionat bevölkerten junge Frauen aus allen Weltgegenden die Räume. Und als Hotel beherbergt es seit 50 Jahren Menschen aus aller Herren Länder. Das Haus Stoffel ist eine Konstante inmitten einer Welt, die sich seit den Zeiten seines Erbauers permanent und immer schneller verändert hat. Diese Konstante wird es hoffentlich noch lange bleiben.

Von 1948 bis 1971 diente das Haus Stoffel als Mädchenpensionat unter dem Namen Belri. Mehr dazu ist im Kapitel ›Das Haus Stoffel‹ auf dieser Website nachzulesen. Auf Initiative der ehemaligen Belri-Schülerin Lorraine Wooley, einer gebürtigen Londonerin, fand im September 2018 eine Klassenzusammenkunft des Jahrgangs 1967/1968 statt.

Lorraine konnte 12 ihrer ehemaligen Mitschülerinnen dazu motivieren, noch einmal nach Arosa zu reisen. Die meisten der heute um die 70 Jahre alten Damen hatten sich seit jener Zeit vor 50 Jahren nicht mehr gesehen. Aus Deutschland, England, den USA, ja sogar aus Südamerika reisten die Frauen an und tauschten über 4 Tage hinweg ihre Erinnerungen an die Belri-Zeit und die Geschichten ihrer Leben intensiv und ausführlich aus. Barbara Lienhard hat die Damen getroffen.

Die Belri-Girls

Von 1949 an reisten junge Frauen aus der ganzen Welt nach Arosa, um im Mädchenpensionat Belri unter der strengen Aufsicht von Miss Hunter und Fräulein Leonhard den letzten gesellschaftlichen Schliff zu erhalten. Sie wurden in Französisch, Englisch und Schreibmaschine geschult, in Etikette und Kultur gebildet und als zukünftige Hausfrauen darin unterrichtet, wie man kocht und Betten macht.

Aus den USA, Südamerika und aus Europa stammten die 35 Teenager, die im September 1968 im Bergdorf zuhinterst im Schanfigg ankamen. Sie hatten kein Auge für das atemberaubende Bergpanorama oder den fast unwirklich blauen Herbsthimmel, der sie auf 1800 Metern erwartete. Für die meisten von ihnen war das Belri zu Beginn ein ungeliebtes Exil, in das sie von ihren Familien verbannt worden waren.

“Meine Eltern mochten meinen Freund nicht und sie versuchten unsere Beziehung durch meinen Auslandaufenthalt auseinander zu bringen”, erinnert sich Laura lachend. Die Amerikanerin hat anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums ein Klassentreffen organisiert. 13 ehemalige “Belri-Girls” sind angereist, einige von ihnen vom anderen Ende der Welt. Es wird viel gelacht in dem holzgetäferten Zimmer des heutigen Hotels Stoffel, das früher das Esszimmer des Pensionats war. Die Frauen tauschen Anekdoten und Geschichten aus, erwecken die gemeinsam verbrachte Zeit noch einmal zum Leben und erzählen, wie aus den schüchternen Teenagern schon bald eine eingeschworene Truppe wurde.

Die Tage im Mädchenpensionat begannen mit einem Gong, immer morgens um 7.15 Uhr, von Miss Hunter geschlagen. Es folgte ein straff getaktetes Programm aus Unterricht, Lernzeit, Haushaltdienst und sportlichen Aktivitäten, bis das Licht abends pünktlich um 22.15 wieder gelöscht werden musste. Lydia Leonhard, von allen nur Miss Leonhard genannt, war die Besitzerin und Leiterin des Belri. Für den Unterricht war Livina Hunter verantwortlich . Obwohl die beiden “Misses” das Pensionat sehr streng führten und die Schülerinnen auch noch von einem deutschen Schäferhund bewacht wurden, fanden sie schnell Schlupflöcher und taten, was jungen Frauen tun wollen: Spass haben, Flirten, Tanzen - und Rauchen, was natürlich strengstens verboten war. “Fast alle rauchten, es waren die 60er Jahre”, erinnert sich Tina. Also traf man sich zum heimlichen Qualmen auf einem der Balkone. Was in dem Chalet mehr als einmal zu brenzligen Situationen und panischen Löschaktionen führte, weil die jungen Frauen ihre brennenden Zigaretten zwischen die Balken fallen liessen, um nicht erwischt zu werden. Ertappte “Miss Leonhard” dennoch eine der Schülerinnen, brummte sie ihr zwei Wochen Hausarrest auf. Was bedeutete, dass sie am Nachmittag keine freie Zeit zur Verfügung hatte. Wobei Miss Hunters Interpretation von Freizeit nicht viel mit Freiheit zu tun hatte. Denn jeden Tag teilte sie ihre Schülerinnen in Gruppen auf und bestimmte, welche was unternehmen durfte: Einen Spaziergang ins Dorf, Tennis spielen oder im Winter Skifahren.

Skifahren war unter den jungen Frauen besonders beliebt, denn der Skilift erwiese sich für kurze Flirts als äusserst geeignet: “Wir stellten uns immer so geschickt in die Reihe, dass wir den Bügel mit einem männlichen Skifahrer teilen konnten”, erzählt die Engländerin Lorraine. Auch für einen schnellen Kuss mit einem der einheimischen Bergbahnen-Mitarbeiter ergaben sich immer wieder Gelegenheiten. Hauptsache, alle Schülerinnen waren um 16.30 Uhr wieder zurück im Pensionat – pünktlich zur Tea-Time. Denn diese britische Tradition hielt die schottische Miss Hunter auch in den Schweizer Bergen für unverzichtbar.

Da Kochen und Backen in den 60er Jahren zu den Fähigkeiten gehörten, die eine junge Dame mitbringen musste, um eine gute Partie zu finden, wurden die “Belri-Girls” auch in der Küche geschult. “Wir lernten beispielsweise, eine Swiss-Roll zu backen”, erinnert sich die Engländerin Tina, ”zum Rollen des Biskuit-Gebäcks durften wir ausschliesslich die englische Tageszeitung Times benutzen, da ihre Druckerschwärze nie auf den Kuchen überging.”

Ab und zu war ein Kinobesuch im Dorf erlaubt - vorausgesetzt, der Film überstand Miss Hunters Zensur und wurde auf Französisch, der Unterrichtssprache des Belri, gezeigt. Die Schülerinnen nutzten die Dunkelheit des Kinos gerne, um sich heimlich in das untere Stockwerk zu schleichen, wo sich das Dancing des Kursaals befand. Und beim Tanzen zur Musik der Beatles oder der Sauterelles rutschten ihre Miniröcke gefährlich in Richtung der Hüften. Dabei war im Pensionat der Abstand von Knie und Rocksaum von der Lehrerin noch mit einem Massstab überprüft worden. Dumm war nur, wenn ein Angestellter des Fotogeschäfts Homberger im Dancing war. Denn die aufgenommen Bilder hängten am nächsten Tag jeweils im Schaufenster des Ladens, an dem die beiden “Misses” auf ihren Hundespaziergängen vorbeikamen. “Dann gab es richtig Ärger”, erzählt Jenny, “beide konnten sehr diktatorisch sein. Wir hatten dennoch unseren Spass.”

Auf die Frage, was sie in ihrer Belri-Zeit gelernt hätten, antworten die heute fast 70-jährigen Frauen: Toleranz und Weltoffenheit. Das gemeinsame Jahr mit den jungen Frauen aus den unterschiedlichsten Ländern, habe ihren Horizont für das ganze Leben erweitert. Und obwohl viele der unterrichteten Kurse selbst für die damalige Zeit altmodisch waren, liessen die Monate in Arosa sie zu selbständigen und unabhängigen Frauen reifen. Und so reiste beispielsweise Laura nach Ende des Schuljahres zurück in die USA und heiratete ihren Freund – gegen die Willen ihrer Eltern. “Wir sind immer noch verheiratet”, erzählt sie lachend.